...und grauer Regen löscht die Feuer





                        Nachrufe zum Tod von Rio Reiser       (20. August 1996)
 
 

                                   Süddeutsche Zeitung: 22.08.1996

                                   G a n z
                                   d e u t s c h e   S e e l e
                                   Zum Tod von Rio Reiser

                                   Auch wenn es nicht mehr viele wissen: Er war der König von Deutschland.
                                   Und nun ist er tot. Innere Blutungen, im Alter von 46 Jahren. Ralph Möbius,
                                   der sich Rio Reiser nannte. Den Namen wählte er, ganz instinktiver
                                   Pop-Star, weil ein Freund ihm von dem Roman Anton Reiser erzählt hatte.
                                   Gitarre hat er wegen der Beatles gelernt, das Singen von Mick Jagger. Die
                                   deutsche Sprache verwendet wegen der Lehrlinge, die ihn verstehen
                                   sollten, wenn er sang: "Wir sind zwei von Millionen. Wir sind nicht
                                   allein."Dazu kam, ganz deutsche Seele, ein Faible für Karl May, Sozialismus
                                   und die Unterdrückten dieser Erde. Daraus wurden Ton, Steine, Scherben,
                                   Deutschlands einzig relevante Rock-Gruppe der siebziger Jahre. Nie das
                                   tun, was Establishment oder Szene gerade von einem erwartet: Häuserkampf
                                   und Satinhemden, Schlager und Prä-Punkrock, Kinderplatten und Agit-Pop
                                   für die militante Schwulenszene, Filmkarriere, Landkommune.
                                   Als andere Bands in diesem Land es auch so allmählich drauf haben, lösen
                                   die Scherben sich auf, nicht ohne große Tournee unter der Ägide von Fritz
                                   Rau. Danach lotet Rio Reiser die Untiefen der deutschen Schlagerbranche
                                   aus, während von Amerika bis Altona seine alten Lieder gecovert werden.
                                   Es ist irgentwie nichts geworden mit der kommerziellen Inthronisation des
                                   selbsternannten Königs von Deutschland. Aber jeder hätte es ihm den Titel
                                   streitig machen können oder wollen. Alles versucht, eine Menge versiebt -
                                   besser als umgekehrt.

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Der "König von Deutschland" ist tot

Rio Reiser starb im Alter von 46 Jahren - In den 70er Jahren Kultfigur

 Berlin (AP) - "Der König von Deutschland" ist tot. Rio Reiser, ehemaliger Frontmann der
 Polit-Rockband Ton Steine Scherben, starb am Dienstag nachmittag in seinem Haus im
 nordfriesischen Fresenhagen, wie ein Familienangehöriger des Sängers am Mittwoch dem
 Radiosender SWF3 bestätigte. Reiser habe an einer neuen Platte gearbeitet und auch
 wieder auf Tournee gehen wollen. Sein Tod sei völlig überraschend gekommen. Die
 Tageszeitung "Die Welt" berichtet in ihrer Donnerstagausgabe, der 46jährige sei an
 inneren Blutungen gestorben.

 Rio Reiser war nicht irgendein deutscher Rocksänger: Als
 Frontmann der Polit-Rockband Ton Steine Scherben wurde er in
 den 70er Jahren zur Kultfigur. "Macht kaputt, was Euch kaputt
 macht", der Titel der ersten Single der Scherben von 1970, wurde
 zum Slogan der radikalen Linken. In keiner Wohngemeinschaft, die
 etwas auf sich hielt, durften die Alben der Band mit
 programmatischen Titeln wie "Keine Macht für niemand" fehlen.
 "Ton Steine Scherben lieferten seit Beginn der 70er Jahre der
 anarchistischen Systemverweigerer-Szene tönende
 Verhaltensmuster", resümiert das renommierte
 Rowohlt-Rocklexikon.

 Als "reisende politische Musikbox benutzt"

 Reiser, der am 9. Januar 1950 als Ralph Möbius in Berlin geboren wurde, gründete Mitte der 60er
 Jahre in Nieder-Roden bei Frankfurt seine erste Band. Drei Jahre später stieg er bei "Hoffmanns
 Comic Theater" ein, in dem auch seine beiden Brüder Peter und Gert mitwirkten. Aus dem
 Theaterkollektiv entstanden 1970 Ton Steine Scherben mit dem harten Kern Reiser, Gitarrist
 Lanrue sowie Kai Sichermann und ansonsten immer mal wieder wechselnder Besetzung. "Wo die
 Scherben zwischen 1970 und 1975 auch auftraten - es gab wenigstens den Versuch einer
 Hausbesetzung", schrieb das Berliner Stadtmagazin "Tip".

 Als die Scherben 1985 zersplitterten, meinte Reiser indessen rückblickend selbstkritisch: "Man hat
 uns als eine Art reisende politische Musikbox benutzt, um die Leute anzutörnen." Von dieser Rolle
 hatte der charismatische Sänger spätestens Anfang der 80er genug. Schon vor dem endgültigen
 Ende der Band, im Herbst 1983, trat er in Hamburg erstmals als Solist auf und stellte ein Programm
 aus Eigenkompositionen, Volksliedern und Songs von Marlene Dietrich sowie den Rolling Stones
 vor. Sein erstes Soloalbum "Rio I.", das von Anette Humpe produziert wurde, schaffte 1986 den
 Sprung in die Hitparaden, und mit der Single "König von Deutschland" wurde Reiser schließlich
 auch einem größeren Publikum bekannt.

 "Deutsche Mick-Jagger-Ausgabe"

 Die "deutsche Mick-Jagger-Ausgabe", wie ihn der "Spiegel" einmal bezeichnete, blieb trotz der eher
 unpolitischen Texte seiner Solo-Jahre ein politischer Mensch. So kritisierte er 1988 in der
 Öffentlichkeit die Aids-Politik des damaligen Staatssekretärs im bayerischen Innenministerium, Peter
 Gauweiler, und kündigte an, daß er den Freistaat vorerst nicht mehr betreten werde. Anfang der
 90er Jahre engagierte sich Reiser bei verschiedenen Benefizkonzerten gegen Ausländerhaß und
 Rassismus. Einen Überblick über sein musikalisches Schaffen gab 1994 das Album "Das Beste von
 Rio Reiser".

 Für die einen waren die Texte Reisers das Schönste, was es gibt, für die anderen schlicht eine
 Katastrophe. Fest steht, daß die deutsche Rockmusikszene mit Rio Reiser eine ihrer
 charismatischsten Figuren verloren hat, auch wenn es um den Sänger in den letzten Jahren ruhiger
 geworden war. Foto: dpa
 
 
 
 
 

NATIONAL-THEATER: Der Traum ist aus

Mit Rio Reiser ging auch die Illusion von der subversiven Kraft der Musik

Von Hollow Skai
 

In der Nacht, bevor Rio Reiser starb, spielte sein Freund Lanrue Billard. Die beiden hatten sich vor 30 Jahren im hessischen Rodgau kennengelernt, 1970 in Berlin
die legendäre Agitrock-Band "Ton Steine Scherben" gegründet und waren Mitte der 70er Jahre mit ihrer Kommune ins nordfriesische Fresenhagen übergesiedelt.
Die Freundschaft der "deutschen Glimmer Twins", wie sie wegen ihrer Parallelen zu Jagger und Richards genannt wurden, überdauerte die Auflösung der Band 1985
ebenso wie Rios Solo-Karriere als "König von Deutschland" . Nach zehn Jahren, in denen Reiser beim Musik-Multi CBS/Sony unter vetrag stand, sollte sein
nächstes Album wieder beim Scherben-Label "David Volksmund Produktion" erscheinen, das Lanrue über all die Jahre am Leben erhalten hatte.
Während der König im Vorderhaus ihres Bauernhofes in seinem schwedischen Bett lag, ein letztes Mal vom Paradies träumte und es draußen schon wieder
dämmerte, legte Lanrue im Hinterhaus eine Platte auf, die er "nur alle zehn Jahre mal " hört.: Mozarts Requiem, das der kurz vor seinem Tod komponiert - und
dessen Uraufführung er nicht mehr erlebt hatte. Wenige Stunden später starb Ralph Möbius alias Rio Reiser nach einem Herz-Kreislaufkollaps in Verbindung mit
inneren Blutungen.
Mit ihm verstummte ein musikalischer Rädelsführer der radikalen Linken, dessen Songs 25 Jahre lang als Soundtrack bei Hausbesetzungen dienten, und vor dem -
Jahre vor seinem Tod - so ziemlich alle Kollegen, von Lindenberg bis Grönemeyer, den Hut gezogen haben. Seine Lieder wurden von Punk-Bands ebenso gecovert
wie von Marianne Rosenberg, der Frauengruppe "Die Braut haut ins Auge" oder den Einstürzenden Neubauten.
Niemand brachte mit seinen Texten die Kritik an dieser Gesellschaft so auf den Punkt wie Reiser, der seinen Künstlernamen Karl Philipp Moritz' Roman "Anton
Reiser" entlehnt und 1967 die vermutlich erste Beat-Oper der Welt komponiert hatte. Keiner sang mit soviel Überzeugung und so vehement gegen die herrschenden
Verhältnisse an wie er. All die unglücklichen Lieben, all der Zorn, die Wut und der Haß auf den Staat - Rio sang so intensiv, daß es einen jeden berührte. Seine
Songs waren echt und wahr, weil er durch alle Höllen gegangen war, die er darin beschrieb. Seine Gefühle waren radikal und authentisch, nicht im Studio
nachempfunden. Bevor es ihn im Fresenhagener Heimstudio dahinraffte, war er bereits tausend Tode gestorben.

Gleich die erste Single, die "Ton Steine Scherben" 1970 in einem Kreuzberger Hinterhof-Studio aufnahmen,
war zur vielskandierten Hymne der Studentenbewegung geworden: "Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" Im
September desselben Jahres trat die Band, die sich nach einem Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann
benannt hatte ("Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben"), auch erstmals live auf.
Als sie an jenem 3. September die Bühne des (von Beate Uhse gesponserten!) "Festivals der Liebe" betrat,
 
kursierten im Publikum bereits Gerüchte, daß viele der angekündigten Bands nicht auftreten würden. Die
Stimmung war hochexplosiv, und es bedurfte nunmehr eines Funkens, um alles in Brand zu setzen. Rio Reiser
ließ sich nicht lumpen: "Hauen wir die Veranstalter ungespitzt in den Boden!" Kurz darauf ging die Bühne in
Flammen auf.
Ein Jahr später erschien das erste Album, das von der Gruppe selbst produziert und auf ihrem eigenen Label
veröffentlicht wurde: "Warum Geht Es Mir So Dreckig" . Die Platte drückte das Lebensgefühl einer
aufbegehrenden Jugend aus, und Reiser verkündete darauf programmatisch: "Ich will nicht werden, was mein
Alter ist."
Nach einem Konzert in Berlin wurde das leerstehende Kreuzberger Bethanien-Krankenhaus besetzt. Die Scherben komponierten daraufhin den
"Rauch-Haus-Song", und im Anschluß an ihre Konzerte kam es immer häufiger zu Hausbesetzungen, überall in der Bundesrepublik, so daß sie sich schon bald wie
eine politische Musikbox vorkamen. Ihre Songs mutierten zu Parolen der Jugendbewegung und wurden auf Demos lauthals gerölt. Lange bevor es hiezulande
selbstverständlich wurde, sang Rio in der eigenen, der deutschen Sprache - und die war explizit genug, um den Status der Gruppe als linksradikale und subversive
Rock'n'Roll-Band zu manifestieren.
Das hatten nicht nur die Bullen erkannt, die wiederholt mit gezückten MPs die Scherben-Kommune am Tempelhofer Ufer durchsuchten. Ähnlich dem unbekannten
Auftraggeber für Mozarts Requiem tauchte eines Abends auch eine steckbrieflich gesuchte Terroristin in Rios WG-Zimmer auf, der von ihm so genannten
"Tutti-Frutti-Republik", und bestellte, konspirativ flüsternd, eine Hymne auf den bewaffneten Kampf, die das Volk beim Sturm auf die Paläste aufrütteln sollte.
Reiser erinnerte sich an eine Parole, die er in der Anarcho-Kiffer-Zeitung "Germania" gelesen hatte, und schrieb daraufhin "Keine Macht für Niemand". Die höchste
Kommando-Ebene der Roten Armee Fraktion (RAF) lehnte das Werk allerdings als "Blödsinn, irrelevant und für den anti-imperialistischen Kampf unbrauchbar" ab.
Im westdeutschen Polit-Underground und in den Kreisen der DDR-Opposition wurde der Song dennoch zum Hit.
Die Zeiten hatten sich inzwischen geändert. Aus Kämpfern waren Kader geworden, und in den Augen dogmatischer Sektierer galten die Scherben spätestens dann
als politisch unzuverlässig, als sie auf einem Solidaritätskonzert für ein besetztes Haus die revolutionären Massen mit Glitter bewarfen. Auf 1. Mai-Demos durften sie
danach nie mehr auftreten.
Mitte der 70er Jahre hatten sie genug von den Rollenspielen der Großstadt und zogen samt Anhang aufs Land, nach Fresenhagen. Das nach dem
Ho-Tschi-Minh-Zitat betitelte Doppelalbum "Wenn Die Nacht Am Tiefsten" wurde denn auch als Rückzug in die innere Emigration interpretiert, obwohl es
größtenteils noch in Berlin entstanden war. Zweimal ging die Band noch auf Tournee, dann zog sie sich, total frustriert und nicht mehr bereit, sich länger politisch
instrumentalisieren zu lassen, ins Studio zurück.
Die Scherben produzierten vielbeachtete Kinderplatten, und Rio Reiser komponierte Film- und Theatermusiken, unter anderem für das Schwulen-Kabarett
"Brühwarm". Der Kontakt zu der Hamburger Gruppe um den späteren "Schmidt-Show"-Moderator Corny Littmann gab ihm den Mut, sich 1976 als Schwuler zu
outen.
Es dauerte sechs Jahre, bis die Scherben erneut ihre Vorlieben für biblische Themen, Karl May und Karl Marx in Vinyl preßten. Ihre erste Tournee nach langer
Abstinenz endete trotz voller Häuser im finanziellen Fiasko, weckte aber das Interesse des Konzertveranstalters Fritz Rau. Der schickte "des Herrgotts
Lieblingsband" erbneut auf Tournee und verschaffte ihr einen Auftritt im "Rockpalast". Der Verkauf ihres schlicht "Scherben" betitelten Albums, das sie inzwischen
als zeitgemäße Popgruppe auswies, hielt sich trotzdem in Grenzen.
Im Laufe der Jahre hatten sie mehr als 300 000 LPs unter die Leute gebracht, doch durch den Ausverkauf der Neuen Deutschen Welle war die finanzielle Situation
der Independents aber immer prekärer geworden - in Fresenhagen hatten sich Schulden in Höhe von einer halben Millionen Mark angehäuft. Auf eigene Faust
produzierten sie noch ein Live-Album, dann wolletn sie zur major company WEA wechseln.
Der unterschriftsreife Vertrag landete im Papierkorb: "In einer mystischen Stunde" löste sich die Band 1985 auf. Der Name "Ton Steine Scherben", der seit 15
Jahren eng mit einer unabhängigen Produktion von Musik verbunden wurde, sollte nicht durch das Überwechseln ins gegnerische Lager beeinträchtigt werden.

Was ihm mit den Scherben nicht gelungen war - nämlich im Jugend- und Pop-markt Fuß zu fassen - schaffte Reiser 1986 mit dem
Gassenhauer "König von Deutschland" , einbem alten Scherben-Song, den auf der '76er Tour noch Nikel Pallat gesungen hatte.
"Emma"-Leserinnen wählten ihn daraufhin prompt zum "Newcomer des Jahres".
Der Pakt "mit dem Teufel", der ungeliebten Plattenindustrie, hatte nur einen Sommer lang bestand. Rio hatte schon bald die Nase voll
vom Business und ließ Manager George Glück, dem er auf dem Album "Blinder Passagier" noch einen Song gewidmet hatte, immer
wieder auflaufen. Wie im November 1991, als Reiser in der Talkshow "Holgers Waschsalon" auftreten sollte. Am Abend zuvor hatte
Corny Littmann ihn mit seinem zukünftigen Freund Niels bekannt gemacht; am Morgen der Fernsehaufzeichnung flogen die beiden
nach Florida. Littmanns Telefon stand nicht mehr still: "Das heterosexuelle Musikbusiness war in heller Aufregung. Mit 41 Jahren war
Rio endlich mal richtig durchgebrannt."
Wenn er in Talkshows seine Platten verkaufen und ahnungslosen Moderatoren, die nur auf die Quote schielten, banale Fragen
beantworten sollte, litt er regelmäßig wie ein Hund. Immer häufiger erschien er angetrunken in Fernsehshows - und vergraulte so Fans,
die nicht nachvollziehen konnten, warum er den Zirkus überhaupt mitmachte, wo er ihm doch offensichtlich zuwider war. Neue Hörer
konnte er so nicht gewinnen, und die alten Anhänger wandten sich, wehmütig an die alten Zeiten denkend, als noch die rote und die schwarze Front marschierten,
von ihm ab.
Allein in der DDR hatte seine Königskrone nocht nichts von ihrem Glanz verloren. Die FDJ lud ihn 1988 zu zwei Konzerten in die Ost-Berliner
Werner-Seelenbinder-Halle ein, nachdem ein Radio-Verbot für Scherben-Songs außer Kraft gesetzt worden war. Dort, in der DDR, wo bereits seit Jahren rare
Mitschnitte von Live-Konzerten kursierten und Fans ohne weiteres bereit waren, für eine Scherben-Platte 200 Mark zu löhnen, fühlte er sich nach dem Fall der
Mauer auch "besser wahrgenommen als im Westen".
Aus Sympathie mit Gregor Gysi - weil der ein "vernünftiger Politiker" sei und "den Mut hat, bestimmte Sachen zu sagen", trat er später gar der PDS bei.
Ausgerechnet er, dem die Engstirnigkeit politischer Organisationen und Parteien (auch der Grünen, für die er noch 1983/84 in de Wahlkampf gezogen war) zutiefst
suspekt war. Ausgerechnet Rio Reiser, der den Scherben-Song "Allein machen sie dich ein" nicht mehr über die Lippen bringen konnte, weil ihm die Textzeile "Und
du weißt, das wird passieren, wenn wir uns organisieren" jedes Mal sauer aufstieß.
Es war ein Engagement mit Folgen. VIVA setzte das Video zu "König von Deutschland" prompt auf den Index, weil die PDS den Song, vom Ost-Berliner
Knabenchor Omnibus gesungen, in einem Werbespot für die Europa-Wahl eingesetzt hatte. Daß sich seine ALben in den letzten Jahren immer schlechter verkauften,
war jedoch kein Verdienst von VIVA, sondern sein eigenes Verschulden. Er war empört, daß ein Westernhagen oder Grönemeyer mehr Platten verkauften als er,
scheute sich aber, die dafür notwendige Kärrnerarbeit zu leisten - oder mit der Industrie zu brechen. Rio wollte den Erfolg, war aber nicht bereit, dafür in die
Manege zu steigen. Ein Widerspruch, der ihn immer mehr verzweifeln und zu tief in die Flasche schauen ließ.
Mit 42 Jahren war seine Leber kaputt, und er bat seinen Manager, ihn nie wieder auf Tournee zu schicken. Fresenhagen wurde immer häufiger zum Fluchtpunkt. Nur
hier, in der Einsamkeit des Landlebens, Tür an Tür mit Jugendfreund Lanrue, schien er überhaupt noch frei atmen zu können. Künstlerisch ging es mit ihm sogar
wieder bergauf. Annette Humpe produzierte 1993 sein Album "Über alles" . In der letzten NDR-Schmidt-Show sang er - ein Novum - gar einen seiner Songs im
Duett mit der Komikerin Marlene Jaschke.
Sein Boxer-Musical "Knock Out Deutschland" sollte ursprünglich im Vorprogramm eines WM-Kampfes von Henry Maske aufgeführt werden, doch dann erwirkte
der NVA-Champion eine einstweilige Verfügung, weil Maskes Trainer Manfred Wolke sich als Trunkenbold denunziert wähnte. Sein letztes Album "Himmel &
Hölle" , im Jahr vor seinem Tod erschienen, zählte schließlich zu den großartigsten Platten, die je in Deutschland produziert wurden. Doch das bekam schon
niemand mehr mit. Für Theatermusiken, Bänkelgesänge, oder Spielmannslieder ist schließlich kein Platz mehr in den formatierten Radio- und Fernsehshows.
Ignoriert von den Linken, weil er sich für ihre schale Nostalgie nicht erwärmen konnte - und in Vergessenheit geraten, weil er sich nicht auf ein verkaufsträchtiges
Image reduzieren ließ, wurde es still um den König von Deutschland. Er begann, seinen Nachlaß zu ordnen. Für Sony stellte er ein Best-of-Album zuusammen, von
dem nicht mal mehr 50 000 Stück verkauft wurden, obwohl er sich eigens dafür eine aktualisierte Version seines einzigen kommerziellen Hits "König von
Deutschland" abgerungen hatte. Er schrieb seine Autobiographie, die wohlweislich mit dem Beginn seiner Solo-Karriere endete. In einem "Tatort" spielte er die
Hauptrolle, einen alten 68er, der - aus dem Knast kommend - sich in einer für ihn neuen Welt zurechtfinden muß. Und von einem dubiosen ostdeutschen
Konzertveranstalter ließ er sich trotz aller Vosätze doch noch einmal zu einer Tournee überreden, obwohl ihn sein Manager George Glück mit deutlichen Worten
gewarnt hatte: "Die Tour wird Dich umbringen."
Wie es aussieht, behielt er Recht. Nachdem ihm im thüringischen Riesa [Anmerkung: Riesa liegt in Sachsen! R. S.] Nazi-Skins auflauerten, die ihn als "schwule
Sau" beschimpften - um dann ungerührt den "Rauch-Haus-Song" anzustimmen (!), nachdem sich die ganze Tournee als katastrophal organisiert herausstellte,
nachdem er sich mit der Agentur auch noch um seine Gage herumschlagen mußte, war er der Belastung nicht mehr gewachsen und brach die Tour kurzerhand ab.
Die Leiche war noch nicht kalt, da wurde sie bereits medial geschändet:
- In den Nachrichten von ARD und ZDF stellte man ihn als romantischen Polit-Clown dar, der dem Anarcho-Zirkus Mitte der 80er Jahre adieu gesagt habe, um
dann nach nur einem Hit in der Bedeutungslosigkeit zu versinken; weder sein "Tatort"-Krimi noch sein Film "Johnny West", für den er 1977 immerhin das
Bundesfilmband in Gold erhielt, wurden - wie sonst ja wohl üblich, wenn ein Promi das Zeitliche segnet - kurzfristig ins Prgramm gehoben.
- In der "Hamburger Morgenpost" vergoß Kollege Heinz Rudolf Kunze Krokodilstränen - er, der einst im Hannoveraner Stadtmagazin "Schädelspalter" propagiert
hatte: "Rio Reiser gehört nach jeglicher Revolution an den nächsten Laternenpfahl geknüpft."
- Der "Spiegel" veröffentlichte einen Nachruf von Blixa Bargeld (der den so nie geschrieben haben will), in dem Reisers Lebenswerk auf die doch eher kurze,
wenngleich legendäre Scherben-Ära reduziert wurde.
- Der Musikkanal VH-1, der mit dem Slogan: "Wenn Sie auf die Musik der letzten vier Jahrzehnte zurückblicken, was sehen Sie dann?" für sich wirbt, nahm noch
nicht einmal einen Video-Clip von ihm in die Rotation auf. Da muß wohl eher ein Phil Collins sterben.
- Die "taz" denunzierte Rio I. schließlich als "vertäumten Einzelgänger", der "unter ökonomischen Druck" stand und "in Zeiten der Neuen Deutschen Welle auch ein
Stück vom Kuchen abhaben wollte". Die NDW war 1986, als Reisers erstes Solo-Album erschien, zwar längst verebbt, aber wer schert sich schon um Fakten? Die
"taz" jedenfalls nicht. Für sie waren Ton Steine Scherben, erst 1970 gegründet, bereits in den 60er Jahren die "gefürchtetste Gruppe der Republik".
"Wie beerdigt man ein Lebensgefühl?" hatte Lanrue zwei Jahre vor Rios Tod in einem "Spiegel"-Interview gefragt. Die passende Antwort gab die Scherben-Family
auf dem überfüllten Abschiedskonzert für Rio reiser im Berliner Tempodrom, wenige Tage nachdem er auf dem Bauernhof in Fresenhagen beigesetzt worden war.
Nachdem sie unplugged "Jenseits von Eden" und "Allein machen sie dich ein" gespielt hatten, am Mikrofon unterstützt von Alexander Hacke (Ex-Neubauten) und
Jako, einem alten Weggefährten aus der Prä-Scherben-Theater-Ära, tobten minutenlang die in Scharen erschienenen Fans, als wäre ihnen Rio soeben leibhaftig
erschienen.
"Träume erfrieren, wenn niemand da ist, der sie träumen will", sang Rio Reiser im "Tatort". Der Traum ist aus, aber er hat alles gegeben, daß er Wirklichkeit wird.

ROLLING STONE 10/1996
 
 


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